Gemeinde geht das Saatkrähenproblem bei der Lußhardthalle an

Antrag auf Gewährung einer Befreiung nach § 67 Abs. 2 BNatSchG     

Hiermit b e a n t r a g t die Gemeinde Hambrücken,

eine Befreiung gemäß § 67 Abs. 2 BNatSchG zu gewähren, wonach in Bezug auf die Saatkrähenkolonie im unmittelbaren Umfeld der Lußhardthalle/Pfarrer-Graf-Schule in Hambrücken in den jeweils genannten Zeiträumen folgende Maßnahmen zur Vergrämung ergriffen werden dürfen:
a) Entfernung der Nester aus den gemäß Lichtbild-Anlage betroffenen Bäumen nach Ende der Brutzeit zwischen August 2023 und Februar 2024;
b) Stutzung und Rückschnitt der betroffenen Bäume zwischen Oktober 2023 und Februar 2024, um für die kommende Brutsaison den Nestbau zu verhindern bzw. erheblich zu erschweren;
c) Ergreifen akustischer Vergrämungsmaßnahmen (Klappern, Knallen, Abspielen von Greifvogelrufen) sowie Einsatz eines Falkners bei beobachtetem Nestbau zu Beginn der neuen Brutzeit 2024;
d) jährliche Wiederholung des Vorgehens bei Bedarf.

B E G R Ü N D U N G I. In der Gemeinde Hambrücken hat sich im unmittelbaren Umfeld der zentral in einem reinen Wohngebiet gelegenen Lußhardthalle/Pfarrer-Graf-Schule eine Saatkrähenkolonie entwickelt. Hiervon sind neben den genannten Liegenschaften des Weiteren der Kindergarten St. Josef sowie eine im Einzelnen nicht bestimmbare Anzahl an Wohnhäusern in den angrenzenden Straßen, vor allem in der Kirch-, Pfarrer-Graf-, Breisgaustraße sowie in den Bruchgärten betroffen. Das betroffene Gebiet ist ein reines Wohngebiet im Sinne des § 3 BauNVO. Insbesondere in diesem Jahr war und ist eine deutliche Zunahme der Population festzustellen. Dies spiegelte sich in der deutlichen Zunahme von Anwohner- und Bürgerbeschwerden im Jahr 2023 wider.
Bei mehreren Besichtigungen, Messungen, Beobachtungen wurden folgende Feststellungen getroffen:
-  37 Nester in insgesamt zehn Bäumen (Stand: April/Mai 2023), Tendenz steigend, was einen Krähenbestand von ca. 74 Saatkrähen zzgl. der 3 bis 9 Jungtiere pro Krähenpaar/Nest ergibt. Der Saatkrähenbestand dürfte somit im mittleren dreistelligen Bereich liegen.
-  schwindendes bis inzwischen nicht mehr vorhandenes Vorkommen anderer, ebenfalls geschützter bzw. schützenswerter Vogelarten (Kohl- und Blaumeisen,Rotkehlchen oder auch Amseln) in diesem Bereich;
-  starke Verkotung und Verschmutzung des Gehwegbereichs (Hauptweg für die Schülerinnen und Schüler) sowie des Schul- und Kindergartenareals, die eine tägliche Reinigung erforderlich machen, insbesondere als die Bäume noch kahl waren;
-  unzumutbare tägliche Lärmbelästigung im Zeitraum von ca. 04.30 Uhr (!!!) bis ca. 23.00 Uhr mit folgenden Messergebnissen:
-  Mai 2023 Werte zwischen 63 dB(A) und 71 dB(A) in der Zeit von 04:30 Uhr bis 07:30 Uhr, teilweise 83 dB(A) um 07:00 Uhr. In der Zeit von 21:15 Uhr bis 23:00 Uhr wurden Werte zwischen 64 dB(A) und 82 dB(A) gemessen, teilweise 89 dB(A) um 21:00 Uhr.
Juni 2023 Werte zwischen 64 dB(A) und 83 dB(A) in der Zeit von 05:00 Uhr bis 07:30 Uhr, teilweise 83,7 dB(A) um 06:40 Uhr. Zwischen 21:30 Uhr und 22:45 Uhr wurden Werte von 68 dB(A) bis 84 dB(A) gemessen, teilweise 87,4 dB(A) um 21:00 Uhr.

Am 21. Juni 2023 fand ein Vor-Ort-Termin mit der Kreisökologin Frau Heideroth (Landratsamt Karlsruhe) statt. Ferner hat die Gemeinde Hambrücken eine fachgutachterliche Stellungnahme eingeholt.


II.
Gemäß § 67 Abs. 2 Satz 1 BNatSchG kann u.a. von den Verboten des § 44 BNatSchG auf Antrag Befreiung gewährt werden, wenn die Durchführung der Vorschriften im Einzelfall zu einer unzumutbaren Belastung führen würde.
Aus den nachfolgend dargestellten Gründen ist hiervon für das genannte Areal auszugehen.

1.
Im Ausgangspunkt wird mit dem Antrag die Gewährung einer Befreiung von den in § 44 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 BNatSchG statuierten Verboten erstrebt, wonach wild lebende Tiere der streng geschützten Arten und der europäischen Vogelarten während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Mauser-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten nicht erheblich gestört werden dürfen (Nr. 2; eine erhebliche Störung liegt vor, wenn sich durch die Störung der Erhaltungszustand der lokalen Population einer Art verschlechtert) bzw. Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der wild lebenden Tiere der besonders geschützten Arten aus der Natur nicht entnommen, beschädigt oder zerstört werden dürfen (Nr. 3).

2.
Selbstverständlich wird nicht verkannt, dass es sich bei der Saatkrähe (Corvus frugilegus) um eine Art handelt, die in der Vogelschutz-Richtlinie 2009/147/EG gelistet ist. Somit ist sie eine Art, die gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 13 b) bb) BNatSchG besonders geschützt ist.

3.
Gleichwohl ist vorliegend von einer unzumutbaren Belastung auszugehen, da der Eintritt der Verbotsfolge in Ansehung der Gegebenheiten des Einzelfalles und der ihn prägenden besonderen Umstände als „nicht gerechtfertigt“, „unbillig“ oder „unangemessen“ erscheint (vgl. Landmann/Rohmer UmweltR/Gellermann, 100. EL Januar 2023, BNatSchG § 67 Rn. 14-16). In der Sache liegt damit eine vom Normgeber nicht beabsichtigte Härte vor (vgl. OVG Lüneburg ZfBR 2013, 162 (167); VG Schleswig NuR 2013, 293 (297); VG Frankfurt (Oder) Urt. v. 14. 5. 2014, VG 5 K 1019/11, BeckRS 2014, 52634; Fischer-Hüftle in Schumacher/Fischer-Hüftle, § 67 Rn. 14), da die durch die Saatkrähen verursachten Beeinträchtigungen im vorliegenden Fall vom Regelfall abweichen. Es handelt sich um einen sogenannten Sonderfall, der die Betroffenen wesentlich stärker als andere belastet.

a)
Eine Vergrämung der Saatkrähen erscheint bereits deshalb angezeigt, um den Schutz der Schul- und Kindergartenkinder zu gewährleisten. Deren Hin- und Rückweg sowie auch deren Aufenthalt in den Pausen führen zu einer täglichen, ständigen Konfrontation mit dem Verkotungs- und Verunreinigungsproblem.
Die einschlägigen hygienischen Vorgaben wie auch der von der Gemeinde als Schulträger geschuldete Gesundheitsschutz zu Gunsten der besonders schutzwürdigen Kinder (Art. 7 Abs. 1 iVm Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) gebieten eine Lösung dieses Problems zu Lasten der Saatkrähen. So kann nicht durch andere zumutbare Maßnahmen dafür Sorge getragen werden, dass die Kinder beim Ausleben ihres natürlichen Spiel- und Forschungstriebes nicht in Kontakt mit dem gesundheitsgefährdenden Kot beispielsweise dadurch kommen, dass sie ihn oder Gegenstände mit Kot-Antragungen anfassen und danach in den körpereigenen Kreislauf bringen. Eine ständige Überwachung der Kinder ist schlichtweg nicht umsetzbar.

Besonders ins Gewicht fällt hierbei, dass sich die Kinder der hierdurch drohenden Gefahren überhaupt nicht bewusst sind. Diese sind immens, denn einige Bakterien und Viren überleben den Verdauungsvorgang problemlos und können sich weiterverbreiten, wenn sie mit menschlichen Schleimhäuten in Berührung gelangen. Klassisch gehören hierzu beispielsweise die Salmonellen. Aber auch Chlamydien gehören zu den Krankheiten, die vom Tier auf den Menschen übertragen werden können. Im Fall der Chlamydien lösen diese eine „Ornithose“, auch Papageienkrankheit genannt, aus. Die Folgen sind meist Durchfall, Müdigkeit und weitere Erkältungssymptome. Wie weit die Infektionsgefahr im allerschlimmsten Fall gehen kann, fanden 2012 US-amerikanische Wissenschaftler in einem Experiment heraus: Sie gaben Krähen mit Prionen infizierte Mäuse zu essen und überprüften dann, ob diese fehlgebildeten Eiweiße den Verdauungstrakt überleben können - mit positivem Ergebnis. Was für Krähen unschädlich ist, kann beim Menschen hirnzerstörende Wirkung entfalten: Prionen gelten als Ursache für die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, eine übertragbare spongiforme Enzephalopathie. Da speziell Saatkrähen weite Strecken von bis zu 80 Kilometern täglich überfliegen, gehen die Forscher davon aus, dass sie daran beteiligt sein könnten, die Krankheit zu verbreiten. Auf dem Boden können Prionen aus dem Krähenkot bis zu zwei Jahre überleben.

b)
Des Weiteren weicht die enorme Lärmbelästigung - sowohl für den Personenkreis Schulkinder, Schulbedienstete, Kindergartenkinder, Bedienstete des Kindergartens als auch für den unbestimmten Personenkreis der betroffenen Anwohner im angrenzenden reinen Wohngebiet - als unzumutbare Beeinträchtigung vom Regelfall ab. Dies bezieht sich sowohl auf das zeitliche Ausmaß als auch auf die Intensität des durch die Saatkrähen verursachten Lärms. Dieser reicht von den frühen Morgenstunden bis weit in die Nacht hinein, beeinträchtigt hierdurch die Nachtruhe und entfaltet hierdurch krankmachende Wirkung. Infolge dessen ist der Schutzbereich des Grundrechts auf Schutz der körperlichen Unversehrtheit eröffnet (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Naturschutz darf jedenfalls nicht höher als der Schutz der menschlichen Gesundheit zu gewichten sein!

Zur Dokumentation im Einzelnen wird auf die Ausführungen unter I. verwiesen. Entsprechende Protokolle liegen vor.

Als Indiz für die Unzumutbarkeit dieser Belastung dient die hierdurch erfolgte Überschreitung der Immissionsgrenzwerte nach den Richtwerten der 16. BImSchV. Die Grenzwerte an Schulen gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 der 16. BImSchV und die Grenzwerte für ein reines Wohngebiet gem. § 2 Abs. 1 Nr. 2 der 16. BImSchV sind als Richtwerte heranzuziehen. Demnach sind tagsüber maximal Immissionsgrenzwerte von 59 dB(A) zu tolerieren und stellen keine schädlichen Umwelteinwirkungen dar. Diese Werte werden vorliegend deutlich überschritten!

Auch der Vergleich mit dem aus Gründen des Gesundheitsschutzes durch die verpflichtende Lärmaktionsplanung EU-weit zu bekämpfenden Verkehrslärm zeigt den dringenden Handlungsbedarf. Dieser liegt regelmäßig in einem reinen Wohngebiet mit Tempo 30 unter den gemessenen Werten der Krähengeräusche.

Auch insoweit gibt es keine milderen Maßnahmen zur Beseitigung der Belastung als die beantragten Vergrämungsmaßnahmen (vgl. auch OVG Lüneburg Urt. v. 8.12.2015 – 4 LC 156/14, BeckRS 2016, 46614).

c)
Schließlich führt die exponentiell wachsende Ansiedlung der Saatkrähen dazu, dass andere einheimische und zumindest schutzwürdige Vogelarten, wie unter anderem Kohl- und Blaumeisen, Rotkehlchen oder auch Amseln inzwischen im betroffenen Areal überhaupt nicht mehr vorkommen. Somit ist die gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 BNatSchG zu wahrende Vielfalt durch die Saatkrähenkolonie in diesem Bereich vereitelt und aufgehoben. Durch einseitige Bevorzugung wird der Naturschutz ad absurdum geführt!

d)
Bei der Entscheidung über den vorliegenden Antrag müssen auch die Konsequenzen einer ungehemmten Weiterentwicklung der Saatkrähenpopulation für die Zukunft mitbedacht werden. Innerhalb kürzester Zeit sind im betroffenen Areal 37 Nester (Stand: April/Mai 2023) entstanden. Werden nunmehr nicht rechtzeitig die beantragten Maßnahmen getroffen, droht in naher Zukunft eine richtiggehende Plage. Es ist spannend zu sehen, wer hierfür die Verantwortung übernehmen wird!

4.
Durch die beantragten Vergrämungsmaßnahmen drohen den Saatkrähen als solchen und der konkret betroffenen Kolonie auch keine außer Verhältnis zum menschlichen Gesundheitsschutz stehenden Nachteile.

Hierbei ist zunächst von Bedeutung, dass die langfristige Bestandsentwicklung (in den letzten 50-150 Jahren) stabil ist und der kurzfristige Bestandstrend (1992-2016) sogar eine starke Zunahme (> 50 %) zeigt.

Des Weiteren stehen der durch die im Antrag im Einzelnen beschriebenen Maßnahmen zu vergrämenden Kolonie in der Nähe andere mit geeigneten Bäumen ausgestattete Lebensräume zur Verfügung (beispielsweise an den Waldrändern), die weit weniger sensibel und nicht mit den o.g. Beeinträchtigungen verbunden sind.

Außerdem verschlechtert sich durch die Störung der Erhaltungszustand der lokalen Population dieser Art nicht. Aufgrund der Anzahl der bislang gesichteten Nester wird von einer Teilpopulation eines größeren zusammenhängenden Bestandes ausgegangen, welcher sich im mittleren Oberrheintal befindet. Demnach betrifft die beantragte Gewährung einer Befreiung zur Vergrämung nur einen Bruchteil dieser Population und verschlechtert den Erhaltungszustand demnach nicht. Wie dargelegt, sind weitere Baumbestände im Gemeindegebiet vorhanden, welche Lebensraum für diese Tiere bieten, so dass davon ausgegangen werden kann, dass die betroffenen Fortpflanzungs- und Ruhestätten der Krähen im räumlichen Zusammenhang erhalten bleiben.

5.
Nach alledem ist die Gemeinde Hambrücken der Auffassung, dass die Anwendung der genannten naturschutzrechtlichen Verbote in Ansehung der besonders gelagerten Gegebenheiten des vorliegenden Einzelfalles Folgen zeitigt, mit denen im Zeitpunkt des Normerlasses nicht zu rechnen war und die die Betroffenen in einer unzumutbaren Weise benachteiligen (VG Schleswig NuR 2013, 293 (297); VG Köln Urt. v. 18. 6. 2013, 14 K 2114/11, BeckRS 2013, 54916; Sauthoff in Schlacke, § 67 Rn. 21).

6.
Ferner liegen auf Grund der Quantität und der Qualität der im Einzelnen aufgeführten Gesichtspunkte Umstände vor, die zu einer Ermessensreduktion auf Null mit der Konsequenz führen, dass die beantragte Befreiung zu gewähren ist.


Dr. Marc Wagner
Bürgermeister